Die Kinder des Schusters
Im Zeitalter des Aktionismus (also jetzt) wird das „Fliegenparadoxon“ immer bedrohlicher: Weil (scheinbar) viele etwas tun, wollen andere das auch tun, eben weil es andere tun. Wofür es gut ist — wen interessiert das? Nach dieser Regel sind Hundehaufen eine Leckerei. Unmassen Fliegen fliegen drauf! Demnach hat es schwer, wer keine Hundehaufen anbietet — der kann kaum Fliegen anlocken.
Sie kennen das sicher: Wer nicht regelmäßig von sich hören lässt, muss sich anhören, dass man schon lange nichts mehr von ihr/ihm gehört hat. Es gibt liebenswürdigere Reaktionen darauf, dass man sich „freigeschaufelt“ und mal wieder gemeldet hat. Insbesondere bei „guten“ Freunden und Geschäftspartnern drängt sich dann schon gelegentlich die Frage auf, ob die vergessen haben, dass man mit einem Telefon nicht nur «angerufen werden», sondern gleichermaßen «jemand anrufen» kann. Ist halt mühsamer, als nach Hundehaufen Ausschau zu halten.
Es geht auch anders: „Schön, dass wir uns mal wieder sprechen!“. Das mündet immer mal wieder in ein mehr oder weniger intensives Gespräch über Gott und die Welt und manchmal — das ist ja keineswegs verwerflich — über Geschäftliches, das andernfalls liegen geblieben wäre oder sich im Gespräch entwickelt. Interessanterweise entsteht ausgerechnet in Telefonaten, deren Zweck lediglich ein einfaches „Hallo; - Zeit/Lust auf ein Schätzchen?“ sein sollte, immer wieder unerwartet Umsatz, während umsatzorientierte Telefonate … — naja. Sie kennen das bestimmt.
Ein echtes Dilemma ist eine Webseite mit Neuigkeiten. Also soetwas wie das, was Sie hier gerade lesen. Da steht dann ein mehr oder minder angestaubtes Datum dran, damit jeder sehen kann, wie lange man sich nicht mehr gekümmert hat. Die Gründe, weshalb, natürlich nicht. Im Internet wird das von Besuchern einer Seite gern mit «hat sich erledigt» statt mit «kommt vor lauter Arbeit nicht dazu» gedeutet. Allerdings wird dabei ebenfalls die Bidirektionalität des Mediums übersehen: Eine kurze Anfrage, z.B. über das meist vorhandene Kontaktformular, eine E-Mail oder ein Anruf, könnte Licht ins Dunkel bringen. So bekommt eine Besucher-Statistik der Webseite Namen und Stimmen. Sie wird persönlich. Das ist mehr wert, als täglich neue Meldungen mit Aussage und Gültigkeitsdauer der Restlebenszeit eines vom Tisch fallenden Weinglases, dessen Inhalt nicht einmal zum Bodenwischen taugt.
Warum das hier steht? Weil in der letzten Zeit vermehrt Anrufe der Art „Ich wollte mich einfach mal (wieder) bei Ihnen melden“ einen ambivalenten Effekt auslösten: Einerseits die Erkenntnis, das man bei allem Engagement für andere die „Selbstdarstellung“ nicht vernachlässigen sollte. Das bereitet Mitmenschen gelegentlich unnötig Sorgen. Andererseits das angenehme Gefühl, dass es doch ohne Hundehaufen geht und Nachsicht geübt wird, wenn gelegentlich „Funkstille“ herrscht. Wobei das keine Entschuldigung sein soll und Besserung gelobt wird (s. Erkenntnis).