Wahltag
Heute dürfen wir wählen. Ich betone: dürfen. Das ist ein Recht, für das in anderen Teilen der Welt Menschen kämpfen und sterben. Beim Blick auf die Wahlbeteiligung der vergangenen Wahlen in Deutschland ist das beschämend.
Es geht uns gut, weil wir wählen dürfen, wählen können. Wer keine Wahl hat, muss sich zwangsweise arrangieren. Aber selbst das ist nicht alternativlos, wie uns von der aktuell herrschenden Kaste verstärkt suggeriert wird. Einmal alle paar Jahre die Stimme — meine Stimme! — für Gremien abgeben, für die mir eine Wahl geboten wird, ist eine Gelegenheit. Keine Last.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Rede von Dr. Navid Kermani zur Feierstunde „65. Jahre Grundgesetz“ hinweisen. Nicht kommentiert, nicht zensiert, nicht selektiert. Einfach der Text, wie er von ihm vorgetragen wurde. Mich hat das tief berührt und mir einen weiteren Grund geliefert, warum ich heute wählen gehen muss.
Ich räume ein, dass es schwierig ist mit dem Wählen. Die Parteien haben zwar vergleichsweise phantasievolle Namen, um auf vermeintliche Unterschiede hinzuweisen. Der Wahl-O-mat macht mir allerdings Sorgen und verwirrt mich eher, als er mir hilft. Denn in den Ergebnissen landen die etablierten Parteien unter ferner liefen, meine thematischen Favoriten liegen in der allgemeinen Wählergunst unter der für diese Wahlen gefallenen 3% Hürde. Ein weiterer Grund. Denn das eröffnet einerseits meiner eigenen Stimme eine höhere Chance auf Wirkung, das gilt allerdings gleichermaßen für die anderen Kleinen, deren Standpunkte nicht nur unter ferner liefen, sondern komplett aus meinem Tableau heraus fallen.
Bedenklicherweise liegt mein Listenanführer gerade mal 10% vor dem Listenverlierer. Und selbst der Spitzenreiter ist noch solide von dem, was ich „Übereinstimmung“ nennen würde, entfernt. Die Verteilung wird etwas besser, wenn ich einigen Fragen mehr Gewicht verleihe. Dadurch spreizt sich das Feld etwas, es kristallisieren sich zumindest deutlicherer Spitzenreiter heraus. Was es jedoch nicht wirklich besser macht, den wählen kann ich nur einen davon. Befremdlich ist für mich die gute Positionierung von Parteien in meinem Ranking, die aus prinzipiellen Gründen für mich nicht zur Wahl stehen. Die sammeln offenbar in den allgemeinen Themen beim Wahl-O-Mat geschickt Unschlüssige ein und verschleiern dabei geäußertes und als Ziel ausgegebenes Gedankengut, dass Sie für mich unwählbar macht. Wobei das bei genauerer Betrachtung eigentlich für alle Parteien gilt. Es gibt dabei lediglich die Abwägung zwischen absolut inakzeptabel bis hin zu irgend eine Macke hat jeder.
Auch wenn es „Die Partei“ dem Namen nach auf der Wahlliste gibt: für mich gibt es sie nicht. Vielmehr buhlen alle sehr eng um etwas über die Hälfte Übereinstimmung mit meinen Wünschen. Womit offenbar wird, dass es zwar viele Parteien, aber wenig Profil gibt. Wobei das kein Nachteil per se ist. Es zeigt vielmehr, dass sich die Parteien — jedenfalls die, die ich mir genauer angesehen habe — auf einem allgemeinen Konsens bewegen. Selbst die, deren Grundton für mich Unwählbarkeit bedeutet. Was durchaus etwas Positives hat.
Neben den europäischen Gedanken müssen wir uns in Braunschweig heute auch sehr lokale machen. Wir wählen unseren Bürgermeister. Fatalerweise ist es im Kleinen ebenso elend wie bereits geschildert im Großen. Ich verstehe den Fatalismus, der im Slogan „Wahlen verändern nichts, sonst wären sie verboten.“ steckt. Allerdings: Ein bisschen was verändern sie doch. Nie so viel, wie wir es uns vielleicht wünschen würden. Aber das hat womöglich auch etwas Gutes. Wenn man einen großen Tanker mit einem Ruck herumreißen könnte, wäre das für die Ladung nicht gut. So ist das auch in einer Demokratie. Und alle paar Jahre dürfen wir für die nächsten Jahre bei der Richtung ein bisschen Kapitän sein. Deshalb: WÄHLEN GEHEN!