Geographie-Lotto
Natürlich ist ein Flugzeugabsturz eine Katastrophe. Alles, bei dem viele Menschen „auf einmal“ ihre Gesundheit oder ihr Leben verlieren, erschüttert. Was — zum Glück — daran liegt, dass es selten passiert. Jedenfalls bei uns.
In den durch den Absturz in den Alpen etwas nach hinten gerutschen Regionen der Welt, in denen nahezu täglich Bomben explodieren und massenhaft Menschen entführt, misshandelt und getötet werden, gibt es für die jeweiligen Vorfälle keine Sondersendungen auf allen Kanälen. Da rennen keine Psychologen los, um den Betroffenen beizustehen.
Geographisches Pech für die Betroffenen. Leute in armen oder Bürgerkriegsländern müssen sich selbst helfen und sind halt weniger interessant. Ist ja weit weg.
Ist es das? Bringt die Polizei einen Psychologen im Schlepptau mit, wenn einer Familie erklärt wird: Sorry, Mann, Pappa, Opa, Onkel, Schwester, Bruder, Frau ... ist tot? Wenn Tatort & Co. die Realität abbilden, ist das nicht so. Für die Betroffenen ist es persönlich mindestens eine ebenso große Katastrophe. Womöglich größer, weil die allgemeine und öffentliche Anteilnahme fehlt. Empathie ist in der Gruppe einfacher.
Der Nachbarin persönlich sein Beileid ausdrücken ist ein völlig anderes Kaliber, als mit ihr über das Elend von Leuten zu reden, über die man sich, wäre es kein Großunfall gewesen, nie Gedanken gemacht hätte. Gedanken, die man sich auch nicht für die macht, der womöglich gerade auf irgend einer deutschen Straße sterben, während ich das schreibe. Das sind in rund zwei Wochen ebenso viele. Halt stiller.
Wie kommt man auf die Idee, Besucher eines Fußballspiels zu befragen, ob sie das jetzt passend finden, wo doch ein Flugzeug abgestürzt ist? Was rauchen Verantwortliche, die dass dann zu besten Zeit im Fernsehen senden lassen? Worum geht es wirklich bei den Sondersendungen, die zwar einräumen, dass man eigentlich nichts weiß, aber davon so viel, dass es für 45 Minuten reicht und das auf allen Kanälen?
Natürlich kann man jetzt über Flugangst oder den Risiko-Index von Fluglinien diskutieren. Sinnvoller wäre allerdings, sich über die Gefahren des Straßenverkehrs auseinander zu setzen. Statistisch gesehen (s.o.) sind die Risiken beim Autofahren signifikant größer. 2013 starben in Deutschland mehr Menschen bei Bahnunfällen.
Von den 3.600 im Jahr 2012 im Straßenverkehr getöteten Personen war
- jeder zweite ein Insasse in einem Pkw
- jeder sechste ein Fahrer oder Mitfahrer auf einem Motorrad
- jeder siebte ein Fußgänger
- jeder neunte ein Fahrradfahrer
Jedes dieser Schicksale hätte ebenso viel Beachtung verdient. Aber für die Medien wird es dann schnell uninteressant, so viele Sondersendungen will niemand sehen. Und niemand will, dass sich schlagartig die halbe Bevölkerung krank meldet, weil die vor sich hin Lebenden merken, dass dem Leben ein permanentes Lebensrisiko anhaftet. Vor dem man sich nicht verstecken kann. Denn bereits eine Teppichkante stellt — entsprechend unglücklich darüber gestolpert — eine tödliche Gefahr dar.
Als Zivildienstleistender bin ich — lang lang ist es her — Rettungswagen gefahren. Einige Bilder habe ich heute noch gelegentlich vor Augen. Damals kam kein Psychologe, wenn sich z.B. jemand vor den Zug geworfen hat. Das mussten die Einsatzkräfte (Feuerwehr, Ersthelfer, Sanis,...) mit sich selbst ausmachen.
Wenn heute betont wird, dass sich Psychologen kümmern, heißt das letztendlich: Uns geht es richtig gut. Denn offenkundig passiert so wenig Schlimmes bei uns, dass wir damit nicht mehr umgehen können. Wie es z.B. die Kinder in Kriegsgebieten jeden Tag auf sich gestellt meistern müssen. Geographisches Glück für uns.