Das Wissens-Paradoxon
Unser Leben besteht zunehmend aus Information, Mathematik und Kommunikation und wir können zunehmend weniger Lesen, Rechnen und Schreiben. Wir folgen einem fatalen evolutionären Ansatz.
In grauer Vorzeit mäanderten wir durch die Gegend, immer auf der Suche nach Wasser und Essen. Als wir herausfanden, dass Essen gepflanzt, vorbei kommendes Wild gejagt und Wasser gesammelt werden kann, wurden wir sesshaft und intelligenter. Als wir Häuser bauen konnten, verloren wir die Fähigkeit zum Spüren von Wetter, als wir Pferde vor Kutschen spannten, wurden wir fußlahm.Heute findet Sport in klimatisierten „Fitness-Studios“ statt oder es wird entlang der befestigten Straße gerannt, bevor oder nachdem darauf zur Arbeit mit dem Auto gefahren wird. Was unsere Vorfahren noch zu Fuß absolvierten. Dafür brauchten sie kein Jogging und High-Tech-Klamotten. Sie machten es einfach. Sie waren an ihrer Umwelt interessiert, lasen Bücher und konnten dem Händler sagen, wenn er sich beim Ausrechnen des Preises für die Kartoffeln verrechnet hat.
Heute haben die Meisten einen kleinen Terroristen in der Hosen- oder Jackentasche, bei manchen ist er fast schon symbiotisch mit der Hand verbunden. Er versorgt uns mit allem, was wir vermeintlich brauchen und lullt uns in einer Wohlfühlblase ein. Sogar das Essen können wir uns damit nach Hause liefern lassen. Wir interagieren digital, wissen gleichzeitig jedoch immer weniger, wie unsere Umwelt überhaupt funktioniert.
Fatalerweise sind es am Ende des letzten Absatzes schon mehr als 200 Worte. Die Einleitung ist gerade mal durch, da steigen viele schon aus, weil Lesen anstrengend, der Gedankengang verloren oder die Aufmerksamkeitsspanne zu Ende ist.
Die Hochschulen beklagen die zunehmende Inkompetenz der Studenten für ein Studium, während die Abiturienten beklagen, die Prüfungsaufgaben seien zu schwer. Beides signalisiert letztendlich das Gleiche: je mehr Heranwachsende in die Informationswelt eintauchen, desto weniger begreifen sie die Zusammenhänge.
Wozu auch?
Wikipedia, Google & Co. wissen doch alles. Lesen ist überbewertet, gibt doch YouTube – ist viel lustiger und einfacher konsumierbar. Die Kasse weiß wegen der Strichdingens, wieviel mein Fertiggericht kostet, im Internet kann ich andere fragen, wie ich das essbar mache. Anstatt Backen eines von unzähligen auf Webseiten beschriebenen Gerichts wird – natürlich in kurzen Sätzen – darüber öffentlich diskutiert, was mit der Folie oder der Umverpackung bei Mikrowellen-Gerichten im Backofen passiert. Weil man das ja ganz, ganz selten macht.
Offenbar genauso selten wie lesen und verstehen. Denn wenn ich keine Mikrowelle habe, kaufe ich mir kein Mikrowellen-Gericht. Was Hersteller auf der Umverpackung aufdrucken. Mit Symbolen, die gerüchteweise auch Analphabeten die Zubereitung ermöglichen sollen.
Textaufgabe Mathematik, Abitur 2020:
Bilde die Summe der Anzahlen der Gruppen [a…z] und [A…Z], der deutschen Umlauten in ihren verfügbaren Schreibweisen, sowie der Sonderform bei Verdoppelung in der Kleinschreibweise, beispielsweise bei „Fuß“.1
Unsere evolutionäre Entwicklung macht uns bequem und lässt uns Dinge vergessen, die unsere Großeltern noch ganz selbstverständlich beherrschten. Die wären bei Unwetter statt zum Feiern in den Park nach Hause gegangen. Heute müssen Wetterfrosch und social media darauf hinweisen, das Gewitter, Starkregenereignisse oder sonstige Wetterphänomene über oder unterhalb Raumtemperatur, insbesondere im Freien, potenzielle Gefahren bergen.
Wir müssten doch gewarnt sein. Die Sumerer, Ägypter, Maya und all die anderen Hochkulturen sind am Ende an sich selbst gescheitert. Jedenfalls lässt sich keine davon als alleiniger, zentraler Ausgangspunkt unserer heutigen Zivilisation ausmachen. Sie schafften Sachen, vor denen wir heute rätselnd stehen und gingen dahin, ohne dass wir wissen warum. Oder sie wurden in der jüngeren Geschichte von vermeintlich Schlaueren platt gemacht ohne das vorhandene Wissen zu retten. Bestenfalls das, was zum eigenen Nutzen oder zum Schaden für andere kommod war.
Offenbar sind wir zu dumm für unsere Intelligenz. Nur das kann erklären, warum wir mit zunehmend allgemein verfügbarem Wissen immer unfähiger werden, es zu unserem Wohlergehen einzusetzen. Statt dessen kümmern wir uns um das persönliche Wohlfühlen. Was beim Lesen erst mal das Gleiche zu sein scheint. Weil „Lesen ≠ Verstehen“ augenscheinlich ein weiteres, wachsendes Problem ist, kann durchrutschen, dass „Wohlfühlen“ lediglich einen Ist-Zustand, „Wohlergehen“ dagegen eine nachhaltige Entwicklung darstellt. Sprich: Letzteres vorhandenes Wissen nutzt, damit wir uns – oder unsere Nachfahren – auch weiterhin wohlfühlen können.
Wobei Abiturienten von heute den Unterschied offenbar ziemlich drastisch vor Augen geführt bekommen. Denn mit Wohlfühlen ist es schnell vorbei, wenn der Traumberuf, der erwartete Lebensstandard, das in der eigenen Wohlfühlblase angestrebte eigene Wohlergeben, mangels eigenem Wissen unerreichbar wird. Vielleicht war das auch bei den Hochkulturen der Anfang vom Ende. Hat halt keiner von denen aufgeschrieben. Selbst wenn: uns ist die Fähigkeit verloren gegangen, es zu lesen.
Wer weiß. Vielleicht hatten die Kulturen, die vermeintlich keine Schrift kannten, gegen Ende ja kleine, portable Computer für die Jackentasche, die umweltneutral kompostierbar waren …
Das Bild stammt von Pixabay.1Die Frage lautet also: 26 + 26 + 3 + 3 + 2 = ?
Was allerdings nur von Abiturienten lösbar ist, die das ganze Alphabet und die amtlichen Regeln für die Rechtschreibung kennen. Das „Hinterfotzige“ daran: Das „große ẞ“ sieht fast genauso aus wie das „kleine ß“ – technisch gesehen sind es jedoch unterschiedliche Buchstaben – also wäre auch „26 + 26 + 3 + 3 + 1“ durchaus korrekt addiert. Die Aufgabe hat demnach zwei richtige Lösungen.