Kontemplation
Corona entschleunigt. Wir üben uns alle permanent in etwas, das in den letzten Jahrzehnten zunehmend geächtet wurde: Warten.
Warten wurde und wird als Zeitverschwendung angesehen. Was womöglich daran liegt, dass wir immer weniger etwas mit „Zeit“ anfangen können. Insbesondere, wenn wir welche haben. Erfolg, toller Lebensstil, … – alles ist davon geprägt, dass die Zeit knapp ist. Alles schnell, am besten sofort, gleich darauf das nächste, bitte keine Pausen.Die permanente Suche nach dem nächsten Kick schmälert den Genuss des aktuellen. Der Gedanke, das es eine Lücke dazwischen geben könnte, bereitet Vielen Unwohlsein. „Zeit haben“ bedeutet nämlich in vielen Fällen, dass ich mich selbst aushalten muss. Das scheint für erschreckend Viele unerträglich zu sein. Netflix & Co. ist leergekuckt, die sich in beängstigend kurzen Abspiellisten wiederholenden Radiotitel können bereits auswendig angesagt werden. Daher drängen immer mehr auf eine Normalität, die aus diesem Blickwinkel betrachtet vor allem den Zweck hat, sich von sich selbst abzulenken.
Warteschlangen vor Geschäften offenbaren diesen Mangel an konzentriert-beschaulichem Nachdenken. Sowie die Strafe für stetig zunehmende Bündelung von Prozessen. „Früher“ hatten Kaufhäuser viele Ein- und Ausgänge, es gab über die Fläche verteilt Kassen. Diese kundenfreundliche Variante ist weitestgehend der Optimierung gewichen: Ein zentraler Eingang, ein zentraler Ausgang. Was besonderes in Corona-Zeiten dazu führt, dass die Geschäfte dort, wo sie jetzt Platz brächten, keinen haben und dort Platz haben, wo ihn keiner braucht. Gerade bei den größeren Geschäften gibt es den feuerpolizeilichen Zwang von potenziellen Fluchtwegen. Die ließen sich zum Eingängen erklären. Das würde bereits vieles erheblich entzerren. Wer einen Schritt weiter geht und dort eventuell eine Kasse hin stellt, kann die Schlange vor der Kasse in mehrere Aufteilen – womit vorhandener Platz plötzlich zweckmäßig genutzt werden könnte.
Als Kunde empfinde ich es darüber hinaus diskriminierend, dass ich mich mit einer Vermummung im Geschäft bewegen soll, meine durch die Atemwegsverlegung beschlagende Brille mich zusätzlich behindert, während Mitarbeiter ohne Mund-/Nasenschutz durch das Geschäft wuseln, eng beieinander stehend diskutieren oder schwitzend Regale befüllen. Die Annahme, dass hart für die anderen Arbeitende kein Infektionsherd sein könnten, ist kaum haltbar. Im Gegenteil: Da wo wir anderen – trotz Stoff vor dem Mund – hineinseuchen, zähle ich dort den ganzen Tag Arbeitende zur Hochrisiko-Gruppe.
Generell scheint das von Geschäften geforderte „Hygiene-Konzept“ keiner Prüfung oder irgend welchen Standards zu unterliegen. In direkt nebeneinander liegenden Verkaufsräumen variieren die geforderten Abstände zwischen 1,5 Metern bis 3 Meter, mal werden Einkaufswagen desinfiziert, mal einfach weitergereicht. Das Desinfizieren wird mal mit Einwegtüchern mit oder ohne Desinfektionsspray, mal mit einem seit Stunden benutzten Stofflappen durchgeführt.
Letzteres war schon vor Corona als „hygienisch zweifelhaft“ bekannt. Dieser rein symbolische Akt verrät, dass die Verantwortlichen und Ausführenden die Zeit der vergangenen Wochen offenbar vor allem mit Zeitvertreib statt mit angemessener thematischer Auseinandersetzung verbracht haben. Mit marginalem Einsatz von Hirn-Kapazität lassen sich derartige Sinnlosigkeiten, objektiv zum Teil kontraproduktive Handlungen, vermeiden. Doch ohne langes Nachdenken gehen sie als „Hygiene-Konzept“ durch.
Zumindest in meiner Kontemplation komme ich zum Schluss, dass die absolut unspezifischen Forderungen der Politik, sowie die von ihr ausgehende Kakophonie der primäre Grund dafür sind, warum immer mehr Menschen die Nase voll haben. Nüchtern betrachtet ist es im Grunde sowieso egal, was die Politik macht. Die Entscheidungen als solche sind letztendlich irrelevant weil wir – das Volk – zu guter Letzt alles ausbaden müssen. Das gilt für die Einschränkungen ebenso wie für das Geld, dass die Politik gerade mit der Gießkanne in fragwürdige „Nothilfen“ schüttet. Deshalb sollten wir durchaus mal anfangen, wenigstens über die Badetemperatur zu reden.
Doch gerade weil viele sich zunehmend die Frage stellen, warum ihre Grundrechte ohne Perspektiven massiv eingeschränkt sind, stört um so mehr, je weniger Einzelne bereit sind, tiefer in die Materie einzutauchen. So ließen sich wirkungsvolle Handlungsabläufe entwickeln – im Ergebnis jedoch andere als „vorher“ und jeder würde kapieren, warum. Doch das führt in eine Endlosschleife, weil das die Bereitschaft zur Kontemplation bedarf, für ich ich mich erst einmal selbst aushalten muss.
Das Bild stammt von Pixabay.