Nachrichten-Hitparade
Nach dem Motto „was tausenden Fliegen schmeckt…“ gibt es bei immer mehr Online-Medien eine »Top Ten« der meistgeklickten Artikel. Doch ist der Herdentrieb tatsächlich ein Ausdruck von Interesse oder wird damit erst Interesse generiert?
Selbst bei – zumindest was die Eigendarstellung betrifft – „vertrauenswürdigen, serösen“ Angeboten wie der Tagesschau findet sich im unteren Drittel der Seite eine „Top Ten“ – knapp über der Wettervorhersage – die mutmaßlich aus dem Ranking ausgeklammert ist, denn sie wäre darin wahrscheinlich Dauergast. Bei „heute“ gibt es zwar lediglich eine „Top Five“, die jedoch ganz am Ende der Seite neben dem Wetter präsentiert werden – warum wohl?Wer vergleicht, wird feststellen, dass es grundlegend unterschiedliche Interessen bei den Besuchern der beiden öffentlich-rechtlichen Anbieter zu geben scheint. Was jedoch schlicht am „Top“-Angebot liegen kann. So funktioniert Werbung nunmal: Was sichtbar ist, wird registriert. Im Netz wird eben schnell mal draufgeklickt – wieder ein Punkt für's Ranking gesammelt. Das hat ein bisschen was von »selbsterfüllender Prophezeiung«.
Besonders schräg wird es, wenn bei „Welt(.de)“ ein Betrag bei „heute“ das Ranking („Top 4“) anführt, der beim Sender selbst im Nachrichtenbereich keine Erwähnung findet. Dort wird an vierter Position sogar Wahrsagerei betrieben, weil »diese Wahl die Republik bewegen wird«. Der Spiegel beruft sich statt dessen auf geheimnisvolle »Spiegel-Informationen« wenn enthüllt wird: »Nawalny sollte im Flugzeug sterben«.
Bei der Süddeutsche(n) Zeitung werden freundlicherweise die Zahlen angeboten, auf deren Grundlage das »Leser lesen«-Ranking gebildet wird. Was Rückschlüsse zulässt. Es handelt sich zum einen offenbar um eine schlichte Momentaufnahme, also eine Auswertung des aktuellen Lesesverhaltens der Seitenbesucher. Wird die Detailseite nach ein paar Minuten aktualisiert, entsteht der Eindruck: Die Leser folgen sich selbst. Die Leserate der oberen rutscht nach unten, in den unteren Rängen rutschen die Artikel aus dem Ranking, werden durch neue, aufsteigende der Startseite verdrängt.
Dieses Ranking macht vor allem die Halbwertszeiten deutlich, mit der Nachrichten Relevanz haben. Die in der Tabelle unten notierten Zahlen des Rankings der „Süddeutschen“ sind im Abstand von ca. fünf Minuten notiert. Sie zeigen gleichermaßen, wie Relevanz geschaffen wird. Knapp 10 % von (relativ konstant) knapp 11.000 Lesern generieren allein durch das darauf Zugreifen (!) einen „Platz 1 Artikel“, der durch das Ranking eine vermeintlich höhere Wichtigkeit erhält. Aus einer Ansammlung von Minderheiten wird vermeintliche Relevanz abgeleitet.
Die Platzierungen des »Liveblog:…« der Tagesschau beziehungsweise des »Newsupdate…« des Spiegel erklärt sich aus dem „Klick-Pusher“ der Newsletter: Das sind die dort präsentierten Artikel. Zum Abonnement von Newslettern — oder gleich Nutzung der Mitbewerber eliminierenden Appp — wird mit einer gewissen Penetranz aufgefordert.
So wird aus vermeintlich objektiver Berichterstattung eine Meinungsblase erzeugt, die mittels selektivem Angebot der Präsentatoren gelenkt wird. Die Zahlen bei der „Süddeutschen“ machen – entsprechend kritisch hinterfragt – zumindest deutlich, was von vermeintlichen „Trends“ oder „Hypes“ im Internet zu halten ist: Es sind bezogen auf das „große Ganze“ verschwindend kleine Gruppen, die hinter diesen „Bewegungen“ stehen, die durch das Aufgreifen von „Multiplikatoren“ – nämlich anderen Medien – eine Bedeutung erhalten, die völlig unangemessen ist. So wie ein weiteres Ranking von Nachrichten, das bereits durch die Vorauswahl der Redaktionen erfolgt ist.
Durch Rankinglisten wird diese Vorselektion mutmaßlich zusätzlich befeuert, weil damit Leser gehalten oder generiert werden sollen. Die Nachricht verkommt zur konfektionierten Handelsware nach dem Geschmack der „Lesekunden“.
Tabelle erstellt zwischen 9:30 - 9:50 Uhr am 13.09.2020
Das Bild stammt von Pixabay.