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gesellschaft,gedanken,unterhaltung

Später Sträter

Erstellt: 27.09.2022 Lesedauer ~2:30 Min.

Trotz Eintrittskarten aus der letzten Dekade wurde uns Einlass gewährt. Er kam pünktlich – nein – natürlich ging er auf die Bühne. Unprätentiös hob er sofort an, überbordende Erzählflüsse aus seinen geistigen Meandertälern auf das Publikum zu ergießen. Eine Amüsement, das jeden Tag des ungebührlich lange darauf wenngleich von ihm unverschuldeten Wartens vergessen ließ.

Den Abend selbst brennt sich noch bei mir als unvergesslich ein. Ich nahm kein Bild von ihm auf, es lag keines herum. Ich schoss keines, ich wollte niemanden verletzten. Vom fotografieren ließ ich ab, denn trotz viele Bilderpunkte hätten nur wenige davon ihn zusammengesetzt. Die Nähe zur Bühne war dem der Selbstverliebtheit geschuldeten Weitwinkelobjektiv keine Hilfe. Für zwei Burschen in der Reihe vor uns war das kommod, erstellten sie sich damit doch ein Erinnerungsphoto des Abends in den Theaterstühlen sitzend. An kalten Wintertagen werden sie vor dem prasselnden Feuer sitzend Memory spielen: Welches Sesselbild gehören zu welcher Veranstaltung?

Der lange Uhrenzeiger überstrich mehr als 1080°, was 180 Minuten entspricht, gemeinhin drei Stunden, bis er letztmalig anhob und raunte:

»Wenn ich jetzt nochmal anfange, kommt ihr nicht mehr nach Hause«.

Was keineswegs eine verwegene Selbstüberschätzung war, vielmehr eine Gnade, die er dem Publikum gewährte. An einem Montag, wie er eingangs demütig bemerkte, an dessen darauf folgenden Dienstag er das Privileg des Ausschlafens habe. Was wohl wenige Begleiter, Begleiterinnen und wie auch immer nichtbinäre Begleitende des Abends mit ihm teilen würden. Was im gewahr sei, er jedoch keine Rücksicht darauf nehmen könne. Die er mit diesen Schlussworten unter großem Beifall doch nahm.

Den Abend umspannte der Generationskonflikt seines Vaters mit seinem Sohn und dessen Sohn mit seinem. Dazwischen Rhönräder, Spermien-gleiche Teslas auf der A2, Flugangst, Netflix, Avanger-Status, die Bahn, Raststätten, Bimsstein, bundesweite Fitness-Center mit zwei Filialen, sowie immer gleichen drei Dritteln. Das war nur ein Auszug, dessen, worauf er Bezug nahm. Fortwährend integrierte er diesen nach regelmäßiger Ansprache oder reagierend auf Ereignisse im Publikum kunstvoll und spontan mit ab- oder tiefgründiger Bildsprache in den Vortrag.

Wie zu Beginn betont, fand Corona keine Erwähnung, welches er nach dreifacher Impfung und deren Nachwirkungen anschließend – unbelassen der impfbedingten Einschätzung, »dem Blauen« ebenbürtig zu sein – erfolgreich nach einer Klapprad-Fahrt zum Hausarzt und Behandlung durch den Briefschlitz hinter sich bringen konnte.

Beiläufig erklärt er seine Verbindung zwischen John Wick mit dem Hustinettenbär, weshalb eine Küche mit Tiefladern für Windräder geliefert wurde und vielen weiteren alltäglichen Wahnsinn, der detailverliebt Realität mit grenzenloser Überzeichnung verband, sowie Andeutung, wohin er uns noch führen könnte, doch unterließ, war er doch bereits ungezählte Male vom eigentlichen Pfad abgebogen.

Um zum Eingangs erwähnten Vergessen zurückzukehren: Wo er angehoben hatte um sofort vom geraden Weg abschweifend in komplexen Geschichten aus Querverweisen, Bezugnahmen, Gedankenbrücken, Ausblicken und Einblicken dort wieder hinzugelangen, um sofort den nächsten Abzweig zu nehmen, verlor er nie aus den Augen. Was dem Abend ständig neue Wendungen bescherte.

Im täglichen Leben wäre die alles umschließende Geschichte wohl in knapp zwei Minuten erzählt. Herr Sträter machte daraus eine dreistündige Achterbahnfahrt durch seine kruden, äußerst unterhaltsamen Gedankenbilder, die er wortstark zu malen wusste, um an gebotenen Stellen ernste Gedanken anzuknüpfen.

Herzerfrischend herrlich. Oder – Sohn-vom-Sohn-Deutsch – „nice“. Ich brauche jetzt erst mal »Zwei-Pack Eis-Tee«. Ich bin heiser vom Lachen.