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Löst gendern Probleme?

Erstellt: 01.01.2024 Lesedauer ~3:30 Min.

Bei der Auseinandersetzung mit dem sehr emotional geführten Streit über das Gendern ist mir ein Aspekt aufgestoßen, den ich bedenklich finde, weil es einen gesellschaftlichen Trend offenlegt: Gendern trennt, statt Schranken einzureißen.

Zwei Männchen rangeln mit Männlich/Weiblich-Symbolen 🔍
Die Gender-Diskussion ist nur ein Nebenschauplatz.

Die „Gender-Fraktion“ verweist im Wesentlichen darauf, dass es um Sprachgerechtigkeit, Gleichberechtigung und Sichtbarmachung der Geschlechter ginge. Speziell der letzte Punkt ist ein objektiver Grund dagegen. Wenn ich meinen Arzt ODER Ärztin fragen soll, vermittelt das eine Wertung, wie die Frage, ob ich „Äpfel ODER Birnen“ lieber mag. Das „oder“ impliziert, es geht weniger um einen „ärztlichen Rat“, als um die Wahl, wer mir den gibt. Statt „iss mehr Obst“, soll ich mich auf eins festlegen.

Die „Sichtbarmachung“ kann daher genau zum Gegenteil des Erhofften führen: Unterschiede werden hervorgehoben, statt sie unbedeutend zu machen. Denn das Geschlecht oder sexuelle Selbstverständnis meiner Mitmenschen muss für ein friedliches Miteinander völlig egal sein.

Die Behauptung, unsere Sprache wäre „maskulin dominiert“, hängt von subjektiver Wahrnehmung ab. Über 70 % der „Apotheker“ sind Frauen. Wenn in allen Apotheken im Ort nur Frauen hinter dem Tresen stehen, wird das Einfluss auf das Bild im Kopf haben. Was gleichermaßen für Ärzte, Architekten und viele weitere Berufe gilt. Die geschlechtliche Repräsentation von etwas wird wesentlich durch unsere Lebenserfahrungen geprägt. Oder dem, was uns als Normalität von etwas vermittelt wird.

So ist sexuelle Gewalt in der medialen Wahrnehmung eine „Männerdomäne“. Was ausblendet, dass daran bis zu 25 % Frauen als Täterinnen beteiligt sind. Selbst dort gibt es also mehr Gleichberechtigung. Mobbing, Bashing, …, lässt kaum noch Unterschiede erkennen. Das offenbaren Ausflüge in emotional besetzte Themen bei BlueSky.

Bei der verbalen Militanz ist die Gleichberechtigung am weitesten fortgeschritten.

Fragwürdig ist, wenn eine AI den vorangegangenen Satz so deutet:

»Es bedeutet, dass Männer und Frauen gleichermaßen die Möglichkeit haben, ihre Standpunkte frei und ohne Diskriminierung oder Benachteiligung auszudrücken.«.

Diese „Positivierung“ der Aussage ist auf die den AIs antrainierte „aufmerksame, rücksichtsvolle Sprache“ zurückzuführen. Informelle Verzerrung duch „Weichspülen“: Es ist explizit Diskriminieren, Diskreditieren, Beschimpfen und (Vor-)Verurteilen gemeint. Die AI-Aussage ist dennoch korrekt: Das fragwürdige Recht darauf findet sich über alle Orientierungen hinweg.

Jene, die Sternchen, Doppelpunkt, Unterstrich verteufeln, sollten sich, ebenso wie die Protagonisten davon, eventuell nochmals mit dem Duden beschäftigen. Der kennt (u. a.) schon sehr lang den „Schrägstich“ und den „Ergänzungsstrich“, woraus „Mitarbeiter/-innen“ gebildet wird. Was allerdings bei „Arzt/Ärztin“ ebenso wenig eine sprachlich korrekt verkürzende Option ist, wie mit Stern, Doppelpunkt, Unterstrich oder Binnen-I. Vor allem löst keines der Varianten das Dilemma, wie der Satz lesbar und gut verständlich fortgeführt werden kann.

Die „Sichtbarmachung“ mit Sonderzeichen erfordert einen wahrnehmbaren Glottisschlag, was Gegner/-innen als „Sprachverstümmlung“ ins Feld führen, während sie ihr Spiegelei essen, das genau damit von einer Spiegelung unterscheidbar wird. Allerdings erzeugt das in der Folge keine grammatikalischen Verrenkungen im Satzbau, sondern eventuell Stress mit Frutariern.

Für eine konsequente Sichtbarmachung müsste „Arzt/Ärztinnenpraxis“ auf dem Schild stehen, es sein denn, dort gibt es nur männliche oder weibliche Ärzte, womit das Schild das ODER unterstreicht. Es lässt sich in der Ansprache als Ausgrenzung aller anderen Geschlechter interpretieren: »Du bist hier (nicht) willkommen«. Das Architekturbüro ist aus sich heraus neutral, eine „Ärztliche Praxis“ ist es ebenfalls. Doch dafür finden sich absehbar schnell ebenfalls Gegner/-innen – trotz althergebrachter, regelkonformer Sprachanwendung.

»Patient*innen werden gebeten, eine Maske aufzusetzen« könnte einige gleich doppelt aufregen, was sich mit »Bitte setzen Sie eine Maske auf« zumindest halbieren lässt. Das vermeintlich Freiheitsberaubende kann mit einem Wahlangebot entschärft werden: »In der Praxis Maskenpflicht«. Wer seine Freiheit behalten will, bekommt die, woanders hinzugehen.

Ich nehme das Gendern mittlerweile als „Begleitthema“ einer stark wachsenden Tendenz wahr: Sich variabel überschneidende, zunehmend diversifizierende Gruppen fordern ein „Recht auf etwas“. Neben dem Gendern beim Klimawandel, Tempolimit und vielen weiteren Dingen. Im Kern ist das völlig in Ordnung, es stößt allerdings schnell an Grenzen. Nämlich an die Rechte, die andere für sich in Anspruch nehmen. Diese Grenzen werden mit zunehmender Härte verteidigt, die Suche nach einer gemeinsamen Lösung, einem Kompromiss, ist dabei immer seltener eine Option. Stattdessen wird auf Narrative verwiesen, weshalb ein Gespräch sinnlos, Ausgrenzung notwendig sei.

Also auch das Trennen von Menschen in Mensch:innen.

Deshalb lautet meine momentane, persönliche Antwort auf die eingangs gestellte Frage: Nein.

Die Naivität meines Wunschs für 2024 ist mir durchaus bewusst:

Nur wenn wir uns alle ein bisschen bemühen, andere weniger aufgrund von Narrativen auszusortieren, sondern eine konstruktive Kommunikation versuchen, kann sich etwas ändern.

Mit weniger Vorurteilen, mehr Rücksicht und Empathie füreinander, wird es zumindest unbedeutender, ob und wie wir gendern (müssen|sollten|könnten), wenn der Fokus auf dem Menschen, der Sache und den Gemeinsamkeiten, statt auf dem Geschlecht/der sexuellen Orientierung und dem Trennenden liegt.

Das Bild stammt von Pixabay.