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Zweifelhafte Vorstellungskraft

Erstellt: 02.01.2024 Lesedauer ~2:30 Min.

Welche Bilder haben Menschen im Kopf, wenn sie bestimmte Worte hören? Die Bandbreite ist groß, weshalb »Du weißt ja, was ich meine« eine bestenfalls vage Definition für etwas ist, das als gesichert angenommen wird.

Zwei Männchen rangeln mit Männlich/Weiblich-Symbolen 🔍
Geht es beim Gendern um „Haltung vs. Erkenntnis“?

In der Identitätsdebatte (neudeutsch „Gendern“) sind es im Wesentlichen Annahmen oder Behauptungen, die als „Haltung“ der deutschen Sprache eine Ungerechtigkeit attestieren. Weshalb sie sich ändern müsse. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die das Gegenteil nahelegen, nämlich Sprache folgt der Gesellschaft, statt die Gesellschaft der Sprache, werden geflissentlich ignoriert1.

Dass „maskuline“ Worte ausschließlich Männer adressieren würde, widerspricht ebenfalls der Sprachforschung. Sie weist in der Sprachentwicklung den geschlechtsneutralen Gebrauch von vermeintlich „männlichen“ Worten nach. Das biologische Geschlecht floss demnach nur eingeschränkt in die Sprache ein. Vieles war ungeschlechtlich, woraus sich das ausbildete, was jetzt „Maskulinum“ heißt. Später kam das hinzu, was jetzt „Femininum“ heißt, wozu ursprünglich z. B. das Wort „Großvater“ zählte2.

Natürlich lässt sich einwenden, Forschung an Ursprungsformen unserer Sprache sei kein Beleg dafür, was wir uns in unserer „modernen“ Sprachform unter etwas vorstellen. Doch genau das ist ein zentrales Problem der Debatte. Was stellen „wir“3 uns denn vor?

In einer Studie von 20124, was „wir“ uns so unter Begriffen vorstellen, wird dem Substantiv im Singular zwar eine „männliche Tendenz“ bescheinigt („der Bäcker“). Trotzdem lässt das die Behauptung der „männlich dominierten“ Sprache zu einem „sanften Gefälle“ und einem Scheinargument schrumpfen.

Ein schlagendes Argument gegen die Annahme, Sprache würde für Geschlechtergerechtigkeit sorgen, führt die Sprachforscherin Ewa Trutkowski ins Feld: Wäre das so, müssten die Türkei und Ungarn als leuchtende Beispiele der Genderbewegung gelten5. Dort wird schon immer „gendergerecht“ gesprochen, von „Gendergerechtigkeit“ sind beide Länder gemäß den angelegten Maßstäben dennoch Lichtjahre entfernt. Aktuell entfernen sie sich sogar zunehmend davon. Unter anderem wegen der lauten Debatte in anderen Ländern6 7.

Frau Trutkowski zeigt in ihrem lesenswerten Artikel darüber hinaus auf, mit welcher Ahnungslosigkeit Vorreiter des Genderns glänzen und wesentliche Aspekte bei der Anwendung davon ignorieren. Bemerkenswert ist ihre Schlussfolgerung:

»Mit intellektueller Differenziertheit oder gar Wissenschaft hat das nicht viel zu tun, aber es passt zu der allgemeinen Tendenz, Wissen durch Haltung und Erkenntnis durch Betroffenheit zu ersetzen.«

Sie verweist auf die „sprachliche Ökonomie“, die eine klare Tendenz zu kürzeren Worten vorgibt. In der generischen Form ist das im Deutschen meistens die maskuline.

Das führt mich zurück auf das Entgendern nach Phettberg. Das kollidiert mit der neudeutschen, vermeintlichen Sprachökonomie der Anglizismen. Der „influencer“ ist im Ursprung neutral, den Regeln folgend wird daraus „das Influency/die Influencys“. Im Englischen hat das zwar eine änliche, aber im Kern völlig andere Bedeutung. Sinnentstellend, womöglich vulgär wird es, wenn aus „Dicker“ ein „Dicky“ wird.

Die ausgesprochene Schmerzfreiheit von uns Deutschen bei Sinnentstellung und Verstümmelung der Sprache zeigen vermeintliche Anglizismen wie »Handy« oder »Public Viewing«. Wobei letzterer Neologismus zu einer schleichenden Redefinition der ursprünglichen Bedeutung im englischen Sprachraum geführt hat.

Public Viewing“ ist gleichzeitig ein schöner Beleg für die ausgesprochen großen Spannbreite der „Vorstellungskraft“: Der Weg vom offenen Sarg zur Großbildleinwand ist zumindest kein offensichtlicher. Offensichtlich ist allerdings, „wir“ geben demnach den Worten eine Bedeutung, während die Worte selbst keine bedeutungsbildende Kraft haben.

Weshalb es für dieses zentrale Argument der Gender-Befürworter/-innen viel Vorstellungskraft, Haltung und Betroffenheit braucht.

Das Bild stammt von Pixabay.

1Bild der Wissenschaft: „Kontrovers: Feministische Linguistik“

2Zeugen gesucht! Zur Geschichte des generischen Maskulinums im Deutschen, Ewa Trutkowski, Helmut Weiß

3Damit ist immer seltener „wir alle“ gemeint, sondern nur noch „wir in unserer Meinungsblase“.

4De Backer, De Cypere: The interpretation of masculine personal nouns in German and Dutch: A comparative experimental study

5Gastbeitrag Neue Züricher Zeitung: „Vom Gendern zu politischen Rändern

6Viktor Orban schimpft über „Woke-Kultur“ und „liberalen Virus“

7ZDF: Türkei-Wahl: Warum Frauenrechtlerinnen bangen