Radikalisierung der Umgangsformen
Mit dem Siegeszug von Smartphones und Social Media verstärkt sich der Trend zur Radikalisierung. Das betrifft keineswegs nur die politischen Ränder: Sie durchdringt das tägliche Leben.
Social Media fördert die »Blasenbildung«. Das Suchen einer Wohlfühlzone, in der sich nur Gleichgesinnte bewegen, wird mit Suchalgorithmen ebenso unterstützt, wie das Ausklammern anderer Meinung. Soweit ist das keineswegs neu. Sich vorzugsweise mit Artgenossen umgeben, die ein Gefühl von Sicherheit vermitteln, ist ein natürliches Verhalten von Herdentieren.
Schwierig wird es in den Schnittmengen, also dort, wo sich „Blasen“ berühren. Im Fall einer persönlichen Begegnung wird selbst bei abgrundtiefer Abneigung von den meisten ein Mindestmaß an respektvollen Umgangsformen eingehalten. Zumindest, wenn sie sich in der Minderheit oder unklaren Kräfteverhältnissen befindn.
Noch werden Menschen gesellschaftlich schlecht goutiert, die vor sich hin pöbelnd durch die Straßen ziehen. Solange sie das alleine tun. Tun sie es als Herde, werden für wachsende Teile davon bisher allgemeingültige Verhaltensweisen bedeutungsloser.
Im digitalen Raum entwickelt sich das stark zunehmend zur bestimmenden Kommunikationsform in „Berührungszonen“: Bepöbeln ist adäquater Ersatz für Umgangsformen und Argumente. Unter dem Beifall der eigenen Meinungsblase.
Der Zuspruch für das Aufgeben eines respektvollen Umgangs mit anderen lässt Menschen zunehmend Grenzen überschreiten. Sie trauen sich in der Bit-Welt Dinge, die im privaten und beruflichen Umfeld hochnotpeinlich, in diversen Fällen schädlich wären.
Auf der anderen Seite werden Bepöbelte dünnhäutiger. Insbesondere politisch Aktive. „Früher“ galt für sie in den meisten Fällen die Maxime:
Wilde Sauen suchen sich Bäume zum Kratzen.
Aber einer Eiche ist egal, wenn sich eine Sau an ihr reibt.
Neuzeitliche Politikerinnen und Politiker gestehen zunehmend nur noch sanftes schubbern zu. Andernfalls wird schon mal der Staatsanwalt oder die Staatsanwältin zur Hausdurchsuchung vorbeigeschickt. In der Wahrnhemung Betroffener „pöbelt“ der Staatsapparat mit seinen Möglichkeiten zurück. Wie angemessen das jeweils ist, wird dem vermeintlich beschädigten Ego untergeordnet.
Fraglos gibt es Grenzüberschreitungen, für die es zum Glück Gesetze gibt.
Doch ebenso wie Pöbelnde über das Ziel hinaus schießen, erfolgt das – auf Staatskosten – seitens Bepöbelter oder selbsternannten „Beschützenden“. In allen Fällen gilt: »Weil ich's kann« ist eine ausgesprochen armselige Rechtfertigung für das eigene Verhalten. Wahre Größe zeigt sich in der Contenance einer Reaktion.
Dazu gehört gleichermaßen, zwei aus der Mode gekommene Verhaltensweisen zu bedienen:
- Der Gegenseite zugestehen, dass ein falscher Eindruck erweckt worden sein könnte, mit der Bitte um Aufklärung.
- Sich entschuldigen, falls der Eifer über das Ziel hinaus getrieben hat.
Etwas mehr laissez-faire im Miteinander würde vielen Diskussionen gut tun.