Gleichberechtigung ist relativAlleMeine Patientenakte gehören mi…

Der Wert des Sinnlosen

Erstellt: 06.03.2023 Lesedauer ~2:20 Min.

Tiktok verbietet jetzt „Armenpornos“. Das ist in mehrfacher Hinsicht pervers.

🔍 Wer keine eigenen Erlegnisse hat, muss sich welche kaufen
Mir selbst war der Begriff und was sich dahinter verbirgt, bisher fremd. Ich komme prima ohne Tiktok-Account klar. „Armenpornos“ ist – bzw. war – offenbar eine pervertierte Einnahme-Quelle für arme Menschen: Du verdienst dein Geld schneller und vor allem weit mehr, wenn du ein paar Stunden in einer kalten Pfütze sitzt, statt dir tagelang auf dem Feld den Rücken krumm zu schuften.

Dass der Mensch grundsätzlich eine Hang zu „mehr für weniger“ hat, ist ein zentraler Antrieb unseres Daseins. Das Rad wurde erfunden, weil in ferner Vergangeheit jemand das mühsame Schleppen satt hatte. Mit einer Karre lässt sich mehr Kram mit weniger Kraftaufwand bewegen. Der „Radmacher“ hatte damit ein lukratives Geschäft, zumindest was zum Tauschen. Beispielsweise mit dem „Bogenmacher“. Der Grundstein zum Kapitalismus war gelegt.

In der Unterhaltungsbranche, der die „sozialen Medien“ zugeordnet werden müssen, findet ebenfalls ein Tausch statt: Eine wie auch immer geartete „Bespaßung“ spült Anbietern Geld in die Tasche. Je sinnloser, desto lukrativer. Wie sonst könnten Menschen, die mit Autos schnell im Kreis fahren, oder Leute, die Bälle treten oder einfach Sachen in die Kamera halten, derart absurde Jahresgehälter erzielen?

Wenn dir das Geld für ein schnelles Auto, was zum in die Kamera halten oder sogar einen Ball fehlt und klassische Prostitution keine Option ist, erweist sich kontaktlose Selbsterniedrigung als lukrative Einnahmequelle:

Mir geht's Scheiße und du darfst dich für Geld daran aufgeilen.

In gewisser Weise kann das als Fortschritt interpretiert werden. Im Gegensatz zu physischer Prostitution kann ich das auf mich zukommende Elend planen und kontrollieren und jederzeit Selbstbestimmt beenden. Wobei genau das ein Trugschluss ist: Die Aussicht auf (vermeintlich) leicht verdientes Geld blendet.

Doch dieser – jetzt eingeschränkter, doch sicher bald in anderer Form neu erstehende – „Leidensvoyeurismus“ offenbart, wie sich die Wertschätzung der Menschen zueinander verschiebt. Früher war der König und seine Vasallen ein Arsch. Doch die hast du an ihren Klamotten erkannt und alle anderen konnten sich dementsprechend verbünden. Heute kannst du mit ein paar Cent ein Arsch sein und keiner kriegt es mit. Schlimmer noch: Die Arschlöcher verbünden sich zusammen und erfreuen sich am Elend anderer.

Wobei auch das genau genommen nur eine modernere Form von Gladiatoren-Kämpfen ist. So lange ich selbst anonym außerhalb der Arena sitze und meinen Spaß haben kann, ist so lange alles gut, wie ich das Geld dafür habe, mir meine eigene Langeweile und Einfallslosigkeit abzukaufen.

Wie gelangweilt und einfallslos manche ihre Lebenszeit nutzen, lässt sich daran messen, welche Umsätze die zunehmend angebotenen Sinnlosigkeiten erzielen. Wobei „sinnlos“ zweifellos eine Wertung meinerseits darstellt. Aus wirtschaftlicher Sicht hat der Austausch von Geld durchaus einen Sinn. Wobei das, was es für dieses Geld gibt, zumindest in den „sozialen Medien“ immer flüchtiger und inhaltsleerer wird. Früher hatte ich dafür ein Rad oder einen Bogen. Oder Wissen, dass mich weiter bringt.

Das Bild stammt von Pixabay.