Hauptsache empört
Unsere Umwelt besteht nur noch aus Empörung, Empörten und Empörenden. Fakten gelten als überbewertet. Diskussionen werden „digital“: eine differenzierte Meinung prädestiniert als neues Shitstorm-Opfer.
Ob Herr Aiwanger als Jugendlicher ein Nazi-Flugblatt verfasst hat, ist mir ehrlicherweise völlig wurscht. Er war mir mit seinen Äußerungen als Chef der „Freien Wähler“ bereits vor dem aktuellen Shitstorm hinreichend unsympathisch. Seine aktuelleren Sprüche lassen es möglich erscheinen, dass er als Jugendlicher — wie viele andere — eine asoziale Phase durchlaufen hat, die sich auf ein gesellschaftlich zumutbares Maß eingeregelt hat.Ex SPD-Chef Sigmar Gabriel hat das prägnant kommentiert:
Warum sollen junge Neonazis aus der rechtsextremistischen Szene aussteigen, wenn sie am Beispiel @HubertAiwanger erleben, dass man auch 35 Jahre später noch für den Wahnsinn der eigenen Jugend öffentlich gebrandmarkt wird? Dann können wir uns die ganzen Aussteigerprogramme sparen.
Quelle: Vormals Twitter
Die Sinnfrage stellt sich mir bereits weit davor, wenn in den Erregungsblasen die Haltung vorherrscht, dass Sprechen mit anders Denkenden per se keine Option sei. Wobei es erschreckend oft bereits an den dafür erforderlichen Vorstufen richtig zuhören / lesen, verstehen und nachdenken fehlt.
Nur das erklärt, weshalb primär heiße Luft gequirlt wird, in der es sich wohlig empören lässt, ohne dass jemand Fakten hat, die aus wissenschaftlicher oder juristischer Sicht »belastbar« genannt werden könnten.
Hätte Herr Lindemann an Frauen gegen ihren Willen Handlungen vorgenommen, wäre das ebenso inakzeptabel wie bei jedem anderen Kerl. Seltsam ist, dass es ausschließlich Anzeigen von Dritten gibt, die auf Hörensagen basieren. Vermeintliche Belästigte sprechen mit Medien und das anonym, bei den Strafverfolgenden liegen von lediglich zitierten Betroffenen keine Anzeigen vor. Folglich gibt es außer aufmerksamkeitsfördernder Empörungsartikel keine belastbaren Fakten.
Das Dilemma: Es wird kein vergleichbarer Aufwand betrieben, einen mit solchen medialen Treibjagden geschädigten Leumund wieder herzustellen. Was generell schwierig ist: Häufig in Abrede gestelltes erzeugt regelmäßig den Eindruck des Gegenteils: Warum gäbe es sonst etwas zu leugnen? Außerdem ist das Mantra einer spontan gebildeten Ansicht unkomplizierter als eine Korrektur des bisher vertretenen Standpunkts.
In nahezu allen Nachrichtenportalen werden aktuelle Meldungen im Kontext mit älteren – häufig mehr oder minder anders lautenden und nun schlicht falschen – Meldungen verlinkt. In den „Falschmeldungen“ gibt es nirgends Hinweise auf die mittlerweile überholten oder widerlegten Behauptungen. Eine Entschuldigung für den spekulativen Unsinn gibt es schon aus Prinzip keine.
Ein Herr Lindemann kennt die Schattenseiten des Ruhms und kann sich Anwälte leisten, die das regeln. Einem „gewöhnlichen“ Menschen wird eine Last für den Rest des Lebens aufgebürdet, bei der das Umfeld über daran wachsen oder scheitern bestimmt.
Das war der Vorteil der „langsamen“ Zeiten. Schreiben oder drucken und die Zustellung war aufwändig und zeitintensiv. Weshalb vor dem Versand länger über den Text nachgedacht wurde. Für sich in kurzer Zeit stetig modifizierende Spekulationen war das Verfahren unbrauchbar. Das Risiko von Fakten überholt zu werden, zwang zu sorgfältiger Recherche und wohlüberlegten Sätzen.
In der persönlichen Informationsverwertung lässt sich das mit dem Gegenteil von schnelllebiger Kommunikation simulieren: abwarten. Aufregen geht später faktenbasiert viel besser! Das einzige Risiko sind Fakten, die den vermeintlichen Aufreger entkräften.
Was zweifellos ärgerlich ist, wenn es primär ums „sich über was oder jemand anderen aufregen“ geht. Doch heutzutage finde sich zum Glück schnell Neues zum Ereifern.
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